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25 10 | '16

Der Gesichts-Porno

"Ach du liebe Güte, die arme Frau!", dachte ich. Das passiert mir jetzt zum zweiten Mal, dass ich auf eine Frau treffe, deren Vorfahre sich offenbar an einem Schnabeltier vergangen haben muss. Anders kann ich mir diese offensichtlich unnatürliche Aufwülstung der Lippen nicht erklären. Werden wir eines Tages nur noch Schnabeltieren mit Polsterkissen auf den Wangenknochen begegnen, welche eine eingebaute Vakuumpumpe im Mund haben (die die Haut ums Gebiss rum nach innen zieht)?

Vielleicht entsteht ja statt dessen ein Trend wie damals, als sie nur Perücken trugen – nur diesmal mit Masken. Einfach morgens ins Bad, sich die Gesichts-Renovierung sparen und statt dessen den Masken-Schrank öffnen. "Wie will ich denn heute aussehen? Schnabeltier, Gala Apfel, Windhund oder Britney Spears?" Eine Welt voller knackiger Gala Äpfeln mit Augen- und Mundöffnungen, wieso nicht? Das trägt vielleicht zur gesunden Ernährung bei. "Ich finde dich zum Anbeissen" wäre dann ausnahmsweise mal wörtlich gemeint (ich hoffe schwer, dass das im Alltag nicht wörtlich gemeint ist – oder die entsprechende Person zumindest Karnivore ist. Vegetarier dürfen diese Redewendung aus Prinzip nicht verwenden). Die Leute ohne Geld erkennt man sehr schnell an der M-Budget-Maske.

Ich würde dann ja gern mal meinen Hinterkopf als Maske tragen – dann laufen die Leute im Kreis um mich herum und suchen die Vorderseite. Oder eine Vollmaske mit Gesichtern auf allen Seiten ("Ich sehe alles!").

Dieses Szenario fasziniert mich gerade... Die Passkontrolle und die Hausärztin wären dann die Einzigen, die das nackte Gesicht noch zu Gesicht bekommen. "Ich musste ihm mein Gesicht zeigen!" – "Wie unangenehm!" Vielleicht gäbe es dann auch so ein Scham-Zelt wie bei der Gynäkologie, wo man den Kopf reinhalten könnte. Zur Untersuchung wird dann kurz der Schleier gelüftet. Apropos Schleier lüften: das wäre bei der Hochzeit sehr interessant. Unter dem Schleier kommt dann Minni Mouse zum Vorschein. Und erst in der Hochzeitsnacht sieht man dann, wen man da eigentlich wirklich geheiratet hat. Dann gibt es welche, die lüften nicht mal nach der Hochzeit die Maske. Und nach zwanzig Jahren gibt es diesen einen Moment, in dem man ins Bad platzt und der oder die Angebetete gerade ohne Maske dasteht und Pickelpflege betreibt. Zum ersten Mal sieht man das wahre Gesicht. Kann ein Scheidungsgrund sein – aber selbst schuld, wenn man zwanzig Jahre lang mit der Maske von Superman rumgelaufen ist. Andererseits wäre sie auch blöd gewesen, zu glauben, sie wäre tatsächlich mit Superman verheiratet. Während er wiederum dachte, mit Rotkäppchen liiert zu sein, die er vor dem bösen Wolf gerettet hat. Sowas kann einfach nicht gutgehen.

Das eine ist, im hauseigenen Bad mit entblösstem Gesicht erwischt zu werden. Aber was passiert, wenn jemandem in der Öffentlichkeit die Maske runter fällt? Es gibt da eine Boulevard-Zeitung, die liebend gerne mit der Schlagzeile titeln würde: "Nasenblitzer – Versehen oder geschickter PR-Schachzug? Exklusive Bilder auf Seite 3." (Aber die Zeitung wird natürlich wegen der wohlformulierten Texte gekauft.) Porno-Webseiten trumpfen mit einem neuen Genre auf: dem Gesichts-Porno. "Boah, guck mal, der lacht sogar!" – "Geil! Aber guck dir mal diesen kranken Shit hier an, der hier guckt traurig!" Irgendwann werden wir diese Verrenkungen der Gesichter nicht mehr verstehen und sie als etwas höchst Irritierendes und Seltsames wahrnehmen. Kleine Kinder werden heimlich auf dem Fussboden kauernd in alten, vergilbten Büchern nachschauen, welche Gesichtsverrenkung für welche Emotion steht. Vielleicht werden ein paar von ihnen mutig, ziehen die Masken aus und schauen in einen Spiegel, spielen die Ausdrücke nach, ganz verschämt und verborgen. (Es gibt Vorstösse, das Thema in der Schule zu behandeln, aber die Proteste der Eltern sind einfach zu energisch.) Und wenn sie gross sind, gründen sie eine Untergrundbewegung. Die erste Aktion: in der Öffentlichkeit die Maske fallen zu lassen und wilde Grimassen zu schneiden. Alle werden verhaftet und in Zwangsmasken abgeführt.

Der Vorteil von Masken: sie sind reversibel. "Ist das Gesicht erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert", heisst es doch. Oder so.