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27 01 | '16

Ich habe mich verliebt. Wieder.

Eigentlich hab ich nach etwas ganz Anderem gesucht, als ich das Du Magazin "Harald Szeemanns Wunderkammer" aufschlug. Es ging darum, ob es ein "Museum der Menstruation" oder eine "Wunderkammer der Menstruation" werden sollte. Statt dessen landete ich bei einem alten Bekannten aus meinem Publizistik-Studium: Niklas Luhmann. Wie habe ich seine Systemtheorie gehasst! Es war das Abstrakteste und Unverständlichste, das ich mit meinen jungen 21 Jahren jemals gelesen hatte. Eine Theorie, in der keine Menschen vorkommen, nur Kommunikation?! Und wozu überhaupt eine Theorie, wenn man sie nicht einmal anhand der Realität überprüfen kann?

Und dann las ich von seinem Zettelkasten.

 

Jetzt muss ich ein wenig ausholen. Meine Grossmutter war der Meinung, dass die Mickey Mouse Comics nicht die richtige Lektüre für mich sind und schenkte mir ein fettes Buch - Hanni und Nanni, Band 1. "Was ist ein Internat?", wollte ich wissen. "Das ist, wenn man etwas bekommt, es nicht mehr haben will und es weggibt", antwortete meine Grossmutter. In ihren Augen mag das logisch geklungen haben, aber ich verstand nur Bahnhof. Dass sie von einem Kind sprach, war mir nicht klar. Ausserdem schreckten mich die Textwüste auf den Seiten ab und so landete das Buch schnell ungelesen in der Ecke. Bis meine Mutter sich mit mir hinsetzte und anfing, mir das Buch vorzulesen. Die Geschichte war witzig. Und schnell begannen wir, abwechslungsweise zu lesen - je nachdem, wer gerade weniger heiser war. Als Hanni und Nanni durch waren, ging es mit Dolly weiter. Schliesslich fing ich an, selbständig zu lesen und trieb meine Eltern finanziell mit meiner Bibliophilie schier in den Ruin. Als ich schliesslich meinen Bibliotheksausweis bekam, brachen die Dämme. Fünfhundert Seiten las ich wie nichts - vom Nachmittag bis spät in die Nacht.

Natürlich habe ich dann irgendwann mit dem Schreiben angefangen. Ich schrieb und schrieb, ein Heft nach dem andern. Schliesslich nahm ich zum ersten Mal am NaNoWriMo teil und schrieb einen Roman - inhaltlich grässlich, aber die Seitenzahl stimmte. Dann schrieb ich noch einen, diesmal etwas langsamer. 180 Seiten. Es war eine wundervolle Erfahrung. Jeden Tag setzte ich mich hin und litt mit den Figuren mit, ich weinte, als ein kleines Mädchen starb. Und ich wusste selbst nicht, wie das Buch enden würde. Als es zu Ende war, war ich fast ein wenig wehmütig. Seitdem habe ich noch tausende von Seiten geschrieben, aber keinen Roman, nur Textfragmente, Tagebucheinträge, Gedanken.

Ich weiss nicht, was passiert ist. War es der erste Fernseher, den wir uns auf meinen Wunsch hin angeschafft haben. War es das Internet, das dann aufkam. Irgendwann verkamen die Metaphern, die ich früher so geliebt hatte, zu kleinen Kunststückchen, es fehlte die Richtung. Und irgendwann hörte ich auf, zu lesen. Und dann, in meinem Studium, hörte ich auf, zu schreiben. Das Zeichnen forderte genug kreative Energie und so schrieb ich nicht einmal mehr die paar Seiten pro Tag, um meine Gedanken zu kanalisieren.

Und dann vor ein paar Monaten ist "es" plötzlich langsam wieder erwacht, hat gegähnt, sich gestreckt und geräkelt und fand: "Hey, jetzt könntest du doch mal ein Schreibheft und einen Füller kaufen." Seitdem schreibe ich wieder ein wenig pro Tag. Und es gab schon ein, zwei Momente, in denen ich schon fast dieses alte Gefühl spürte - wie Gedankenfäden, die sich von selbst zu einem Ganzen verweben und ich verliere keinen der Fäden, ich habe diese Übersicht. Ich schrieb über die Menarche, die erste Menstruation von jungen Mädchen und von Ameisenprinzen und (erfundenen) Ameisenprinzessinnen, welche ein einziges Mal in ihrem Leben Flügel haben, um von dort wegzufliegen, wo sie geboren wurden. Und dass es von dort aus kein Zurück mehr gibt. Und dass die Menarche vielleicht so ein Punkt sein könnte.

 

Und dann stolperte ich über Luhmanns Zettelkasten. Ein textliches Gegenüber, das mit einem spricht, das unerwartet reagiert, das neue Ideen generiert. Und das dem eigenen Gehirn nachgebildet ist. Plötzlich spürte ich, dass sie da auch enthalten waren, die Gedankenfäden. Nur musste man sie nicht alle gleichzeitig in der Hand halten. Man sortierte sie in den Kasten ein und sie würden dann auftauchen, wenn sie gebraucht wurden. So könnte man viel grössere und komplexere Muster weben. Gerade beim Buch von Danielewski "House of Leaves" hatte ich mich gefragt, wie man so etwas Komplexes schreiben kann. (Ein grossartiges Buch übrigens - ich hätte nie gedacht, dass ein trockener Sachtext eine so emotionale Wirkung haben kann. Ich bin noch nicht ganz fertig damit, aber ich kann es jetzt schon empfehlen.)

Und dann geschah das Unglaubliche: ich entdeckte ein Video, in dem Luhmanns Systemtheorie klar und verständlich erklärt wurde. Und ich begann tatsächlich, mich dafür zu interessieren. Nachdem ich mich an der Uni so gegen jegliche "graue Theorie" gewehrt hatte, verliebte ich mich plötzlich in die Wissensarbeit, ins Denken und ins Theoretisieren. Und meine erste grosse Liebe in meinem Leben überhaupt kehrte zu mir zurück: das Schreiben. Wer weiss, vielleicht werden mein neu geborener Zettelkasten und ich eines Tages gemeinsam Seite an Seite, Seite für Seite vorwärts streben?

 

Ich weiss noch nicht, wann. Aber irgendwann will ich nochmals 180 Seiten schreiben. Oder auch 190. Oder 200. Oder die 500, die ich damals so schnell in einem halben Tag verschlungen hatte. Ich freue mich auf das Abenteuer.