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28 09 | '13

Frustration beim Zeichnen

Gut, die haben mich definitiv nicht ins Studium aufgenommen, weil ich so toll zeichnen kann. Ich darf mich wirklich und ehrlich rühmen, die schlechteste Zeichnerin der Klasse zu sein, wenn es darum geht, etwas realistisch abzuzeichnen. Wenn es dann noch darum geht, unter Zeitdruck und im Stehen eine Gebäudefassade abzuzeichnen, dann ist definitiv Schicht im Schacht. Am liebsten hätte ich die Seiten aus meinem Skizzenbuch gerissen und in den Fluss geworfen. Vorher vielleicht noch gern in kleine Stückchen zerrissen. 

Da fühle ich mich an die Zeiten im Sport erinnert, wenn die ganze Klasse davon rannte, während ich keuchend und mit hochrotem Kopf versuchte, die Strecke wenigstens gehend zu überleben. Die Krähen kreisten schon über mir, in der Hoffnung, ich würde in der Hitze abserbeln. Ich hätte den Viechern ja gerne etwas zu Futtern gegönnt, aber mich selbst wollte ich dann dafür doch nicht zur Verfügung stellen. Ich schätze, das hier ist ungefähr dasselbe. Damals habe ich begonnen, in meiner Freizeit Sport zu treiben. Irgendwann konnte ich dann beim Joggen gut mithalten, mein Körper fühlte sich dabei sogar gut an. Das Zeichnen ist nicht anders als das Joggen. Nach ein paar Tagen intensiven Zeichnens spürt man den Stift leichter werden, die Muskeln kräftiger, der Strich entspannter. Man sieht klarer. Es fliesst.

 

Sie haben mich aufgenommen, weil ich Geschichten erzählen kann. Ich könnte jetzt von dem Mann schreiben, der mir gegenüber sitzt und Sudokus löst. Er hat eine Glatze, aber eine rasierte. Kaut an seinem Stift. Er hat ein interessantes Gesicht. Abstehende Ohren, eine Nase mit kräftig gebogenen Flügeln. Sein Kopf sackt leicht ein, wenn er etwas ausfüllt - als würde er sich innerlich vor dem Rätsel verneigen. Manchmal runzelt er die Stirn und zieht die Mundwinkel nach unten, als wollte er sagen: Ich habe keine Ahnung. Kratzt sich am Kopf. Hustet. Bernd. Bernd Meierhofer. Er kann sich gar nicht richtig konzentrieren. Eigentlich macht er dieses Rätsel nur, um nicht über sein beschissenes Leben nachdenken zu müssen. Seine Frau ist ihm gerade davon gelaufen. Mit seinem Sohn. Zurück in die Türkei. Er weiss nicht, ob er seinen Sohn jemals wiedersehen wird. Deshalb trinkt er lieber noch ein Schluck von seinem Bier. Es schmeckt grässlich bitter - lauwarmes Billiggesöff. Er sieht seine Frau vor sich - ein völlig fremder Mensch. Er dachte, sie zu kennen, aber... Da kommt eine Drei hin. Nein, eine Fünf. Nur nicht daran denken. Nur an die Zahlen denken.

"Sie lagen schon richtig! Da kommt eine Drei hin!" Die Frau neben ihm lächelt ihn an. Er bemerkt, dass sie dasselbe Sudoku aus derselben Gratiszeitung vor sich liegen hat.

 

Und so könnte es immer weiter gehen. Es ist alles so einfach. Man muss es nur fliessen lassen - das habe ich schon seit zehn Jahren geübt. Vielleicht ist es eine Liebesgeschichte, vielleicht wird sie aber auch bald umgebracht, vielleicht entdecken sie gemeinsam einen geheimen Code im Sudoku, der sie auf die Spur von Geheimagenten oder Ausserirdischen führt. So, damit ist mein Ego wiederhergestellt ;-)

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