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21 09 | '16

Leerräume

Wenn die Müllabfuhr morgen früh vorbei kommt, wird sie sich fragen, warum plötzlich doppelt so viele Müllsäcke draussen stehen wie üblich. Was in den Säcken ist? Ein ungelebtes Leben. Kürzlich kam ich nach Hause und fand es da vor. Es hockte mitten auf meinem Kunst-Tisch und es hatte die Gestalt von drei Gläsern, in denen ich selbst angemischte Ölfarbe aufbewahrte. "Wieso stehen die eigentlich noch hier?", warf mein Gehirn die Frage ins Universum und das Universum gab keine Antwort. Daraufhin landeten die Gläser im Müll. Aber wie das ungelebte Leben so war, tauchte es plötzlich wieder auf, als ich einen Stapel ungelesener Zeitschriften entdeckte, wie er da unter meinem Bett hockte, 50cm hoch und in seiner Massigkeit und Fülle plötzlich ungefähr so verlockend wie sechzig Gläser Nutella auf einmal zu essen. Altpapier. Und so verschwindet das ungelebte Leben gerade Stück für Stück aus meiner Wohnung. Es tauchte wieder auf in Form von Stoffresten, von einer halb fertig genähten Tasche, von unzähligen Papierresten und von Kleidungsstücken, die ich nie getragen habe und nie tragen werde.

Je mehr das ungelebte Leben aus meiner Wohnung verschwindet, desto mehr bleibt vom gelebten Leben zurück und wird immer wichtiger. Ein Teil des ungelebten Lebens war auch ungemachte Kunst. Gegenstände, die eines Tages mal zu einem tollen Kunstwerk heranwachsen sollten. Techniken, die ich eines Tages ausprobieren wollte. Immer auf das Morgen verschoben, ständig auf dem Sprung zum nächsten Projekt. Die Kunst hat begonnen, sich mir zu widersetzen. Sie hat darauf bestanden, dass ich erst Raum schaffe, dass erst das ungelebte Leben verschwindet, bevor sie sich mir wieder zuwendet.

Ein wenig unheimlich ist sie schon, dieser neu entstandene Leerraum. Wie eine kleine Haselnuss in der bahnhofshallengrossen Vitrine plötzlich eine ungeheure Wichtigkeit erhält, allein durch den leeren Raum, der sie umgibt, so erhält die verbleibende Kunst (nicht die Luftschlösser) plötzlich eine Sichtbarkeit, die erschrecken kann. Sie kann sich nicht mehr hinter Verschwommenheiten, hinter Unklarheiten verstecken. Was da in dieser riesigen Vitrine abgelegt wird, wird sichtbar – mit all seinen Qualitäten und Fehlern. Noch stellt sich die Kunst quer, besteht darauf, dass ich das ungelebte Leben endgültig aus meiner Wohnung vertreibe. Aber ich bin gespannt, welchen Weg wir nun beschreiten werden, wenn ich ihr meine ungeteilte Aufmerksamkeit schenken kann.