Rehe sehen.
Vor einiger Zeit ging ich im Wald spazieren. Irgendwann blieb ich stehen und nahm einen Moment, um durchzuatmen. Erst dann bemerkte ich, dass knapp zehn Meter vor mir ein Reh stand und mich ansah.
Gestaltung, Schreiben, das war für mich immer das Rauschhafte, das Geschwinde, je schneller und spektakulärer, umso besser. Oft gelingen einem dabei erstaunlich gute Zufallswürfe und gerade um die Kontrolle abzugeben, ist es eine gute Idee, auch mal das Arbeitstempo zu wechseln. Inzwischen wird mir jedoch immer mehr bewusst, dass diese Schnellschüsse ebensolche bleiben, wenn sie nicht weiter ausgearbeitet werden. Ein Kratzen an der Oberfläche, unter der Dreckschicht schimmert kein Gold, also ab zum Nächsten. Der Witz an der Sache ist, dass man das Reh übersieht, wenn man wie ein gestresster Hornochse durch den Wald hetzt. Dass der Wald voller Rehe sein könnte und man kriegt das gar nicht mit. Dass das eigene "diese Technik/dieses Motiv taugt sowieso nichts", die eigenen Zweifel einen davon abhalten, einmal stehen zu bleiben und genau hinzusehen. Und dass das Herstellen von Bildern nur ein kleiner Teil des kreativen Prozesses ist. Ein viel grösserer Teil sind die Selbstreflektion, das Vertiefen und später auch das Aufbereiten in eine gewisse Darstellungsform, das einem Werk nochmals einen ganz neuen Dreh verpassen kann.
Deshalb ist der Weg, möglichst schnell zu einem guten Bild gelangen zu wollen, für mich oftmals der Falsche. Ich mag keine Reise, bei der das Ziel schon feststeht. Das Risiko, sich auf unbekanntem Terrain zu verirren, ist natürlich ungleich grösser. Oft hörte ich, dass GestalterInnen sich bewusst beschränken, weil ihnen das Projekt sonst entgleitet. Was für mich funktioniert, ist ein Mittelweg: man beginne bei A, lasse Ideen Ab und Ac genauso zu wie Idee X, schreite dabei aber sehr langsam vor und höre beständig, was der Bauch dazu meine. Wenn es Langeweile erzeugt, ist es die falsche Richtung oder die falsche innere Haltung. Die Haltung, die mir am besten hilft, ist eine fragende, neugierige: was passiert wohl, wenn ich diese Fläche mit der Technik kombiniere? Dabei immer auch zu schauen, was zufällig entsteht, vielleicht vorzeitig zu stoppen und eine vorgefertigte Idee bei einem weiteren Blatt zu Ende zu führen, um die Produkte des Zufalls nicht zu ruinieren. Aus einer Position des Nichtwissens zu agieren. Wann immer ich einem schwierigen Punkt ausweiche oder eine Darstellung meide, die meine Verletzlichkeit zeigen könnte, begebe ich mich in klischeehafte, vorgefertigte Bahnen. Das kann passieren, das ist okay, aber dann das zu spüren, den Plan beiseite legen, wieder auf den Bauch hören und einfach die Hände machen lassen. Denn die Hände denken besser als das Gehirn, sie wollen nicht kontrollieren, sie tun einfach. Es einfach tun und im Moment sein, nicht beim übernächsten Bild oder bei dem Lob, das man sich davon erhofft. Sich etwas Gutes tun, Kunst hat sehr viel mit Wellness zu tun und soll für uns da sein, nicht wir für die Kunst. Denn so haben wir mit der Gestaltung alle begonnen, als etwas, das wir gerne tun und das uns an Orte führt, von denen wir nicht mal wussten, dass sie existierten, bevor wir den Weg gingen. Vergessen, was andere dazu meinen, denn es geht nicht um die anderen, sondern nur um einen selbst, ein zutiefst egoistischer Akt, sich diese Freiheit zuzugestehen, niemandem gefallen zu müssen. Erfolg ist in diesem Moment des Gestaltens unwichtig und gehört weggesperrt, denn nur so kann man sich den Anfängergeist bewahren und die Welt wieder sehen, als wäre man drei Jahre alt und würde alles zum ersten Mal sehen... wieder staunen und geniessen können. Und dann, wenn der Bauch sagt, es ist genug... einfach den Pinsel niederlegen, in die Küche gehen und Spaghetti kochen, eine Serie gucken und das normale Leben einziehen lassen, als wäre das Kunst-Machen nichts Besonderes, gleichwertig mit dem Schneiden einer Tomate, dem Sitzen auf einem Stuhl, einem Atemzug, weil man das Leben nicht halbieren kann in verschiedene Teile, weil es keine unwichtigen Momente gibt. Und dann wird man im Wald jedes einzelne Reh geniessen können, als wäre es das letzte Reh, das man im eigenen Leben sehen würde.