Back to top
07 07 | '13

Talent

Seit meine Zeichnerei langsam besser wird, höre ich ab und zu: "Du kannst das halt, du hast Talent. Ich bin halt nicht so kreativ." Blödsinn! Ich habe vor zwei Jahren mit dem Zeichnen angefangen, nicht als Kind. Ich musste mühsam lernen, perspektivisch halbwegs korrekt zu zeichnen. Ich hab jeden Morgen eine halbe Stunde im Zug Leute abgezeichnet. Ich hab überall gezeichnet, wo mich etwas interessierte. Meine wichtigste Erkenntnis: Wenn man nur oft genug (möglichst täglich) zeichnet, wird man automatisch besser. Man kann gar nicht anders. Plötzlich wird der eigene Strich anders - fliessender, lockerer, übermütiger. Der Stift scheint fröhlich ein Eigenleben zu entwickeln und hüpft übers Papier. Kaffee wird zum Tusche-Ersatz, Servietten zum Papier-Ersatz. Es geht gar nicht mehr um die Frage: Habe ich Talent? Es geht um die Frage: Was macht mir Spass? Und mit der Zeit die Frage: Welche Themen, welche Inhalte sind mir wichtig?

Kreativität ist erlernbar. Für manche Leute ist das vielleicht eine kühne Hypothese. Aber keiner würde zweifeln, dass man logisches Denken trainieren kann. Die Muse mag manchmal etwas zickig sein. Eine kleine Diva, die sich gerne mal hinter ihrem purpurnem Fächer versteckt. Aber im Prinzip geht es nur darum: Den Kopf in eine lockere, entspannte Stimmung bringen und dann alle Gedanken und Ideen zulassen, die einem so einfallen. Jedes Klischee, die doofste Idee, alles zählt und alles muss erstmal notiert oder direkt ausprobiert werden. Logik ist einfacher - Logik funktioniert immer. Kreativität braucht Mut. Man muss den Mut haben, sich in einen Abgrund zu stürzen und einfach zu vertrauen, dass der eigene Kopf schon irgendetwas Nettes zu Tage fördert. Dass da am Grunde des Abgrundes schon ein Netz ist, das einen auffängt, bevor man hart auf dem Boden der Realität aufschlägt. Und man darf während des Ideen-Entwickelns NICHT beurteilen, nicht kritisieren, nicht zensieren. Das kommt erst hinterher. Logik ist Kontrolle. Kreativität ist Kontrollverlust. Und diesen Kontrollverlust muss man wieder und wieder üben, bis man ihn fast auf Kommando abrufen kann.

 

Leistungsdruck kann die Kreativität extrem einschränken. Wie will ich all die lächerlichen, perversen, langweiligen, hässlichen Ideen zulassen, wenn ich im Kopf schon überlege, wie das Gegenüber wohl darauf reagiert? Es hilft, wenn man sich unter einer Blase verstecken kann. So tun, als ob. "Ich mache gerade nur einen Entwurf. Den werfe ich nachher eh wieder weg." oder "Das hier mache ich nur für mich selbst. Für den Kunden / die Welt da draussen mache ich dann eine andere Version." Am Schluss ist der "Entwurf" meistens gut genug, um ihn der Welt zu zeigen. Und wenn nicht - nun, dann muss man so lange daran herumfeilen, bis es gut genug ist.

 

Die Vorstellung vom "Talent" beinhaltet, dass man es eben kann oder nicht kann. Und wer es nicht kann, ist auf ewig vom Club ausgeschlossen, der kann es nie lernen. Nur kommt seltsamerweise nie jemand auf die Idee, dass ein guter Koch besonders viel Talent haben muss oder ein Gärtner - oder ein Sportler. Beim Skifahrer ist klar, dass er unzählige Male den Hang runter fahren muss, dass er seine Ausdauer und seine Kraft trainieren muss. Aber beim Zeichnen oder bei anderen kreativen Tätigkeiten soll man es einfach können. Und wenn mir jemand sagt, ich hätte Talent, dann ist das eine Missachtung all der Arbeit, die ich die letzten zwei Jahre geleistet habe. Es ist mir nicht zugeflogen, im Gegenteil. Ich hatte meine frustrierten, verzweifelten Momente, ich hatte Momente, in denen mir das Zeichnen nur noch auf die Nerven ging, weil mir nichts gelingen wollte.

 

Eine Dozentin an der ZHdK hat mir gesagt: "Wenn du an der HSLU in der Illustration fiction reinkommen willst, musst du viel zeichnen, bei jeder Gelegenheit zeichnen, alle Techniken ausprobieren, möglichst viel Verschiedenes ausprobieren, stapelweise Zeichnungen produzieren. Du musst wirklich dran bleiben." Das hätte auch übersetzt werden können mit: "Jetzt reiss dich endlich zusammen und tu etwas!" Der Tritt in meinen Allerwertesten war nötig. Und hat geholfen.