Unterwegs in einer Seifenblase 38
Perfektionismus kann tödlich sein. Sehen wir uns mal das Aussehen von Menschen an. Viele fühlen sich unzureichend, weil sie nicht wie Brangelina aussehen. Als Gestalterin entwickelt man da so einen ganz eigenen Geschmack. Die kleinen Stupsnasen, die hohen Wangenknochen und gezupften Augenbrauen sind irgendwann zum hundertsten Mal gezeichnet. Aber viele von uns suchen nicht nach perfekten Fassaden, sondern nach Geschichten. Und eine krumme Nase, ein schiefer Mund, ein winziges oder ein überdimensioniertes Kinn erzählen mehr - das sind Charaktere, keine Copy-Paste Photoshop-Models.
Ein Dozent von uns hat mal die Kellnerin davon abgehalten, die Essensreste abzuräumen. Und zeichnete den Hühnerknochen ab.
"Aber das ist doch nicht mehr schön!", meinte die Kellnerin.
"Wir Illustratoren haben manchmal einen komischen Geschmack", meinte er grinsend.
Ich würde hinzufügen: wir sehen dort Schönheit, wo sie sonst niemand erkannt hat. Im nicht-Perfekten, im Schrägen, im Fehlerhaften.
Und dann können wir uns doch nicht immer gegen den Perfektionismus wehren. Gerade, wenn wir auf das Ende einer Arbeit zusteuern. Die einen geben nochmal Vollgas. Die andern wollen das Werk schon für gescheitert erklären, weil es nicht die eigenen Ansprüche erfüllt. Aber vielleicht liegt auch hier die Schönheit in der Lebendigkeit des Werks, in seinen Emotionen und der Frechheit, Witzigkeit, dem Mut und der Sinnlichkeit - und nicht in der mechanischen Perfektion. Und vielleicht braucht es auch hier ein wenig Mut, das Werk am Schluss nicht zu Tode zu perfektionieren, sondern es weiterhin atmen und leben zu lassen.