Visual Essay, die dritte
Für normale Menschen mag das nicht nachvollziehbar sein, aber StudentInnen haben wirklich Mühe, morgens aufzustehen. Das liegt nicht zwangsläufig an den berühmt-berüchtigten Studipartis, sondern einfach an einem anderen Arbeits- und Schlafrhythmus - viele arbeiten gern in die Nacht hinein. So quälte ich mich morgens um sieben aus dem Bett und verfluchte mich mal wieder, dass ich nicht eine Reportage über das Nachtleben ausgewählt hatte. Heute würde ich ein Interview durchführen, also musste ich frühzeitig dort sein.
Ich kann mir bildlich vorstellen, wie mein Gesicht ausgesehen haben muss, als dann der Zug am Zielort einfuhr und "Luzern" auf der Tafel stand. Alles hatte ich vorbereitet - die Fragen, die Mikrophonaufnahme getestet, mir Hintergrundwissen angelesen - aber ich hatte vergessen, das Gleis zu überprüfen, auf dem der Zug fahren sollte. Die nächste Hiobsbotschaft liess nicht auf sich warten - der Nationalrat schrieb mir nämlich: "Melden Sie sich einfach beim Weibel." Die Weibel sind die grünen Männchen - entschuldigung, die grün gekleideten Damen und Herren - im Nationalratssaal, welche alle möglichen Dienstleistungen bereitstellen, inklusive Kaffeelieferung am Platz und das Überbringen mysteriöser Notizzettel von einer Person zur nächsten. Als Besucherin für die Einzeltribüne darf ich allerdings genau den Weg die Treppe hinauf gehen und wieder hinunter. Bei irgendwelchen lustigen Ausflügen quer durchs Bundeshaus würde ich Ärger kriegen. Telepathisch würde ich aber mit dem Weibel nicht kommunizieren können. Nachdem ich daraufhin ein paar Emails verschickt hatte, um das Problem zu lösen, versuchte ich ein letztes Mittel: den Herrn vom Betriebssicherheitsdienst an der Tür zu fragen. Er konnte mir weiterhelfen und daraufhin durfte ich zum ersten Mal das Bundeshaus durch den Vordereingang betreten.
Das Prozedere mit dem Sicherheitsdienst ging zügig, weil ich inzwischen weiss, wie es läuft - mein Deo (eine Sprühdose) habe ich nach einer kritischen Beäugung gestern vorsorglich entfernt, Cutter und Schere waren ohnehin zu Hause und die auf den Schildern abgebildete Schusswaffe kann ich mir aus finanziellen Gründen nicht leisten). Nicht dass es Grund dazu gäbe, den Sicherheitscheck zu optimieren, die Beamten und Beamtinnen sind sehr freundlich und geduldig - das Gegenteil dessen, was ich erwartet hatte.
Zurück zum Thema: der Nationalrat holte mich daraufhin ab. Er war sehr sympathisch, lud mich sogar netterweise zum Kaffee ein und nach ein paar Fragen lief das Interview praktisch von selbst. Das Gespräch war sehr interessant und offenbarte viel von dem, was zum Job eines Politikers gehört, was mir aber so nicht bekannt oder bewusst war. Ich kenne die gängige Haltung gegenüber den Politikern, die nie das Richtige tun, und den gemeinen Lobbyisten, aber ich will es jetzt für einmal genauer wissen und schauen, was überhaupt an den Vorurteilen dran ist. Am Stammtisch sitzen und sich beklagen ist einfach. PolitikerIn zu sein ist eher komplex, so wie ich das erfahren habe. Dazu aber später mehr in meiner Reportage.
Der Nationalrat musste zwischendurch davon rennen, um rechtzeitig zur Abstimmung im Nationalratssaal zu sein - denn wer zu spät kommt, hat Pech gehabt. Das führt vermutlich dazu, dass Nationalräte auf ihr Sporttraining verzichten können, weil sie effektiv manchmal in Scharen den Saal gerannt kommen, um den Abstimmungsknopf noch zu erwischen.
Danach habe ich mich noch auf die Tribüne gesetzt, um eine Stunde zu zeichnen. Aber nach dem Durcheinander vom Morgen war meine Konzentration futsch. Es ist Wahnsinn, aber meine innere Unruhe ist sofort auf den Zeichnungen sichtbar - die Schraffuren nicht mehr schön regelmässig, die Linien zittrig und die Tische nehmen seltsam ungeometrische Formen an, weil ich nicht gut genug beobachte.
Alles in allem ein guter Tag. Ich bin realistisch, meine Reportage wird keine riesigen Enthüllungen und Sensationen enthalten, dafür fehlt mir auch zu viel politisches Hintergrundwissen. Aber für einen kleinen, vielleicht ungewohnten Einblick in die politische Welt wird es reichen.
Und morgen? Morgen werde ich es geniessen, wieder einmal etwas länger zu schlafen - denn freitags ist keine Sitzung. Weiter gehts dann am Montag.