Back to top
28 02 | '17

Der Unterschied.

Meine Seminararbeit im zweiten Jahr wollte den Unterschied zwischen Kunst und Illustration/Grafik beleuchten. Es gab Kontext (Museum vs. Zeitschrift) oder Auftraggeber vs. Freigeist, doch über den Gegenstand selbst gab es nie zufriedenstellende Aussagen. Nun ist es die eigene Erfahrung, die mir die sehnlichst gewünschte Erkenntnis beschert hat.

Es gibt zwei Modi: den offenen und den geschlossenen Modus. Im offenen Modus sind wir wie kleine Kinder. Wir blödeln herum, unsere Wahrnehmung ist hellwach und weit geöffnet bis hin zur   Ideen-Diarrhoe oder manischen Besessenheit, wir lassen uns gehen und es fliessen. Und so mancher scheinbar völlig unpassender Gedanke hat sich später als Glücksgriff entpuppt.

Dann gibt es den geschlossenen Modus. Hier produzieren wir gezielt. Wir haben das Endprodukt schon im Kopf (ein Animationsfilm von 1min Länge), der Inhalt ist definiert und wir bewegen uns auf einer vorgedachten Linie. Um ein wohltemperiertes Produkt zu erhalten, dürfen wir nicht mehr zu stark von der Leitlinie abweichen, dürfen nicht mehr ausbrechen.

Für einen gelingenden Kreativprozess braucht es beide Modi. Sind wir ausschliesslich im offenen Modus, haben wir zwar tolle experimentelle oder aussergewöhnliche Ideen und Produkte, werden aber kein Endprodukt haben, das in sich stimmig und rund erscheint. Sind wir ausschliesslich im geschlossenen Modus, wird unser Produkt zwar perfekt daher kommen, es fehlt ihm jedoch eine gewisse Lebendigkeit und eine gewisse Andersartigkeit, es bleibt auf der Linie des bereits Existierenden, es bleibt eine Wiederholung des schon Gemachten.

Illustration und Grafik, sofern sie als Dienstleistung angeboten werden, haben oft einen höheren Anteil des geschlossenen Modus, weil oft schlicht keine Zeit bleibt, um während der Auftragssituation Neues zu entwickeln. Die Innovation wird nicht vom Auftraggeber finanziert, sondern geht zu Lasten der Kreativschaffenden, welche sich in ihrer Freizeit weiterentwickeln müssen. Sind sie jedoch vollständig mit Aufträgen ausgelastet, bleibt keine Zeit mehr für Neues, für eigene Projekte. (Aus meiner Sicht ist es sinnvoll, sich immer einen Teil der Zeit für eigene Projekte zu reservieren, da sich diese auch immer befruchtend auf Aufträge auswirken können.) Ausserdem ist Auftragsarbeit immer Team-Arbeit: AuftraggeberIn und DienstleisterIn. Im Idealfall ist das eine tolle Erfahrung, bei dem das Feedback produktiv genutzt werden kann und beide am selben Strick ziehen.

Kunst hat einen höheren Anteil des offenen Modus, sie soll, ja muss sogar ausbrechen (so zumindest die Forderung, die ich lautlos zu hören meine). Fehlt der geschlossene Modus völlig, ist das Produkt entweder oberflächlich (Schnellschuss) oder für Aussenstehende völlig unzugänglich. Kunst kann vom geschlossenen Modus profitieren, indem ein Werk nochmals verfeinert und herausgeschält wird.

Für meine eigenen Projekte verwende ich im Moment die Modi im Wechsel. Das heisst: beliebig produzieren, auch Ausreisser zulassen, ziellos mäandrieren, es fliessen lassen. Und hin und wieder etwas herauspicken und zu einem fertigen Produkt ausarbeiten. Um dann mit ebendiesem Produkt wieder in den offenen Modus zu wechseln (immer mit einer Sicherheitskopie im Hintergrund) und so weiter. Und dann gibt es noch einen weiteren Modus: der findet dann statt, wenn man das Klo putzt, die Rechnungen bezahlt, eine riesige Portion Gemüse zu einer leckeren Sauce verarbeitet, einen Roman liest. Dieser letzte Modus ist das Geheimnis wirklich guter Gestaltung, egal ob Kunst, Illustration oder Grafik. So wie der Weissraum in einem Bild oder die Pausen in einem Musikstück.