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06 12 | '16

In fremden Schuhen

Kunst bedeutet, sich zu zeigen. Egal, wie knorrig, banal oder intellektuell unsere Gestaltung sein mag – sie verrät immer etwas darüber, wer wir sind, und Kritik an ihr ist immer auch Kritik an uns. So sehr wir auch versuchen, dies nicht persönlich zu nehmen und es oft auch schaffen, uns davon zu distanzieren. Es ist persönlich. So mag jemand mit einer subtilen, feinen Wahrnehmung lieber die Zwischentöne, die Graustufen, die gebrochenen Farben – jemand mit Temperament mag lieber die harten Kontraste, die klaren Linien. Und wenn wir dann sagen "das ist Geschmackssache", dann sagen wir eigentlich, dass jeder seine eigene Welt mitbringt.

Wir hatten eine unglaublich tolle Dozentin an der Schule, die meinte: "Ihr müsst auch mal die andere Erfahrung machen." Wer filigran zeichnete, dem drückte sie den dicksten Edding-Filzer in die Hand, wer winzig zeichnete, der bekam ein A1-Blatt in die Finger und wer riesig zeichnete, musste vielleicht mal versuchen, sich auf ein winziges Blöckchen zu quetschen.

Das ist nicht ganz einfach, denn die raumgreifende Zeichnerin überfällt möglicherweise ein beklemmendes Gefühl der Klaustrophobie, während sie sich auf einen winzigen Raum beschränkt. Und die filigrane Zeichnerin überfällt ein Gefühl der Verlorenheit und kompletter Überforderung auf diesem riesigen A1-Blatt. Und diese Gefühle haben nicht nur mit dem Zeichnen, sondern mit unser ureigenen persönlichen Geschichte und unseren Erfahrungen zu tun. Sich zeichnerisch auf ein grosses Blatt zu wagen bedeutet, nicht schnell mit der Hand etwas Unperfektes abdecken zu können.

Es sind diese Grenzerfahrungen, die uns persönlich und künstlerisch weiterbringen. Und meiner Erfahrung nach gibt es nie einen Unterschied zwischen Lebenswelt und der eigenen Kunst – denn beides findet im selben Gehirn statt und beeinflusst sich gegenseitig. Und ich will mich die nächsten Wochen auch der Grenzerfahrung stellen, mich in fremde Schuhe zu begeben, die zwischendurch sehr unangenehm auf den Füssen sitzen. Ganz wohl ist mir nicht bei der Sache. Aber ich probiers.