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30 01 | '16

Wer nichts verpassen will, verpasst sehr viel.

Ich gehöre zur ersten Generation, die als sogenannte "digital native" aufgewachsen ist. Mit etwa acht Jahren sass ich zum ersten Mal am Computer. Damals habe ich noch mit Textbefehlen durch das alte DOS navigiert, Floppy Disks waren für mich Alltag. Als ich das erste Mal mit dem Internet in Berührung kam, fand ich es todlangweilig - in dem Alter war mir noch nicht bewusst, dass das Internet nicht nur aus diesem einzelnen Linkverzeichnis bestand, auf dem ich zufällig gelandet war. Und ich bin mehr als nur eine digitale Eingeborene - in meinem (nicht abgeschlossenen) Informatik-Studium bin ich von "Was ist ein Browser?" zu "Was, du weisst nicht, was ein Browser ist?" aufgestiegen. Und obwohl sich mein Gehirn sehr lange geweigert hat, die Prinzipien einer Programmiersprache zu verstehen, habe ich es schliesslich beim dritten Anlauf geschafft.

Gleichzeitig gehöre ich zur Generation, die das computer- und handylose Zeitalter noch kurz beschnuppern durfte, bevor es vorbei war. Einen Fernseher gab es bei uns zu Hause keinen, dafür jede Menge Zeit zum Totschlagen. So habe ich mir selbst die Stenographie beigebracht, das Jonglieren, hab das griechische Alphabet auswendig gelernt. Letzteres kann ich immer noch - auch wenn es sich ausser bei Kreuzworträtseln als ziemlich sinnfrei herausgestellt hat. Und das war das Schöne an all diesen Tätigkeiten. Sie waren nicht dazu da, um ein Ziel zu erreichen. Es ging einfach darum, etwas Neues auszuprobieren, die Welt zu erkunden.

Spätestens mit dem Informatik-Studium kam dann der Nerd in mir hoch. Neue Apps wurden massenweise installiert, Youtube Videos geguckt, gediggt, getweetet. Das war eine rasende, aufregende Zeit. Nie kam Langeweile auf. Bis sich irgendwann ein unangenehmes Gefühl der Sinnlosigkeit einstellte. Noch ein Video mehr, noch ein Artikel mehr. Was hatte ich gestern eigentlich noch gelesen? Vergessen. War ja auch nicht wichtig. Es gab so viel Neues zu entdecken! Ja nichts verpassen! Inzwischen weiss ich: Man verpasst verdammt viel, wenn man nichts verpassen will.

Was verpasst man denn? Auf der Suche nach dem noch nächsten Artikel, nach dem nächsten Video, nach dem nächsten Wasauchimmer habe ich begonnen, immer oberflächlicher zu lesen und zu denken. Ich surfte, aber ich tauchte nicht mehr. Ich beschäftigte mich mit so lebensrelevanten Themen wie: "10 minimalistische Apps, die Sie haben müssen." Völlig sinnfrei.

Diese Sachen von früher - die waren auch sinnfrei. Aber die lassen mich auch heute noch lächeln, wenn ich daran zurückdenke. Zwei Wochen lang war ich täglich am üben, bis mir die Handgelenke schmerzten, weil ich nicht aufhören konnte, zu jonglieren. Ich träumte davon, irgendwann im Zirkus aufzutreten.

Wer Angst hat, alles zu verpassen, verpasst dabei das reale Leben, den Moment, in dem wir gerade drin stecken. Sollen wir deshalb das Internet in die Tonne kloppen? Ich glaube nicht. Ich habe viel online entdeckt - den Minimalismus als Lebensphilosophie genauso wie den Buddhismus, ich hab einige tolle Rezepte entdeckt, die ich heute noch koche, es ist eine Verbindung zu alten Freunden und nicht zuletzt meine Haupt-Einnahmequelle. Aber ich habe gelernt, mich vielem zu entziehen, was da online so herumschwirrt. Ich entdecke die analoge Welt ganz neu. Den Schopenhauer könnte ich online gratis lesen - aber ich hab ein Buch gekauft. Weil ich nicht mehr surfen will, sondern tauchen. In einem realen Buch liest man anders. Der Laptop ist zu, ich sitze am Tisch und immer wieder klappe ich das Buch zu und schreibe mir meine eigenen Gedanken auf. Und das ist ein schönes Gefühl, dieses ruhige Tempo zu leben.

Kürzlich wollte ich einen Zettelkasten à la Luhmann anlegen. Also lud ich mir eine App herunter und fing an, Informationen einzupflegen. Anfangs tippte ich die Zettel noch sorgfältig, irgendwann ging ich zu Copy Paste über. Bis ich irgendwann fand, dass dies nicht der Sinn der Sache sein konnte. Es geht schneller, aber man verarbeitet die Informationen auf diese Art nicht. Sie werden nicht zu einem Teil des eigenen Wissensschatzes, sie verändern nicht das eigene Denken und Fühlen - sie gehen genauso verloren wie die ganzen Online-Artikel, die ich damals konsumiert habe. Deshalb habe ich mich hingesetzt und angefangen, A6-Zettel aus Altpapierfetzen auszuschneiden - genau wie Luhmann damals. Ich notierte einen ersten Gedanken von Schopenhauer. Und plötzlich kam mir noch ein Gedanke. Und noch einer. Und noch einer. Und am Schluss war es nicht Schopenhauer, der da aus diesen Zetteln sprach, sondern ich. Er hatte mich nur sanft angestossen und mein Gehirn war vorwärts gestürmt.

Man denkt langsamer, wenn man es von Hand aufschreibt - das gibt Zeit, sich eigene Gedanken zu machen. Die Gedanken lassen sich jetzt auch physisch auf dem Tisch auslegen. Die Sicht ist nicht begrenzt wie auf dem Bildschirm. Heute habe ich dann aus Graukarton eine Schachtel hergestellt, um die Kärtchen mitnehmen zu können. Das hat Spass gemacht. Und ich freue mich darauf, die ersten Bilder einzusortieren. Erstmal mit Zetteln gefüllt, wird das ein richtig schönes Objekt - keines, das versehentlich mit der Delete-Taste vernichtet werden kann.

Und fühl mich dabei wieder wie zwölf, als ich mich noch für die unmöglichsten Dinge begeistern konnte. Herrlich!